21. April 2020
von Jutta Czurda Jeder Mensch ist ein Künstler. Dieser Satz von Joseph Beuys ist ein leitmotivischer Gedanke im Brückenbau. Er adressiert das Verschüttete, das Nicht-Zugetraute, das Sehnsüchtige in uns und ist zugleich Forderung und Einforderung an das Theater: seine Türen, seine Werkstätten zu öffnen für diejenigen, die sich jenseits ihrer Alltagswelten eine neue innere und äußere Welt erspielen, ertanzen, ersingen wollen - in IHREM Theater. Die Seiten zu wechseln und vom Zuschauer zum Spielenden zu werden ist für viele, oft spät im Leben, die Verwirklichung eines Traumes. Doch vor den Traum ist eine lange Reise gesetzt. In den Werkstätten und später in intensiven Recherche- und Probephasen wollen die Mittel des Theaters überhaupt erst einmal benannt, untersucht, am eigenen Leib erforscht und entwickelt werden. Es gehört eine Menge Mut dazu sich selbst als schöpferisches Wesen zu erfahren, den raumgreifenden Schritt zu wagen, den gesungenen Ton an der Wurzel zu packen, den vollen Klang der eigenen Stimme zu hören, über sich selbst hinauszuwachsen und sich ganz und gar der Suche nach dem Authentischen zu öffnen. So gilt dem Körper, als ‚Refugium des Authentischen‘ (Thomas Reher), in allen Sparten des Brückenbaus, die Aufmerksamkeit. Der Körper ist der Ort, mit dem uns die Welt erfahrbar wird, durch den wir in der Welt sind. Der Körper des Spielenden, Sprechenden, Singenden, Tanzenden wird zu einem Instrument, zu einer Transformatoren-Station zwischen innen und außen, zu einem Instrument das neu gestimmt und eingestimmt werden muss. Oft auch muss das Spüren, Fühlen, das Ruhigwerden und Lauschen, das Wahrnehmen erst einmal wieder entdeckt und geübt werden. Dazu braucht es einen vertrauensvollen Raum, ein Miteinander in dem jeder angstfrei lernen und experimentieren kann. Der sinnliche Umgang mit dem eigenen Körper und mit dem Körper des anderen muss wieder spielerisch und lustvoll sein dürfen. Oft muss, jenseits von Konvention und Tabu, mühsam erlernt werden wieder ‚berührbar‘ zu sein. So ist vor die Bühnenarbeit im Brückenbau immer auch die Selbsterfahrung gesetzt. Nicht im Sinn einer Selbsterfahrung deren Ziel eine persönliche, psychologische Therapie sein will, sondern eine Selbsterfahrung, die den Menschen als Ganzes, im leib-seelischen, im reflektierend-mentalen und im emotionalen für das künstlerische Geschehen vorbereitet und einstimmt. Denn jetzt erst kann ein Transfer in die Bühnenarbeit entstehen, in die schauspielerische, sängerische, tänzerische, tanztheatrale und performative Gestaltung. Jetzt können Geschichten erzählt werden. Jetzt kann Körperwahrnehmung, Stimme, Haltung, Spiel zu Geschichten verwoben werden. Jetzt kann untersucht werden, wie diese Geschichten erzählt werden wollen, welche gestalterischen und inszenatorischen Stilmittel, welche Bewegungssprache, welche Haltung eine Erzählung braucht. Ästhetische Entscheidungen müssen fallen. Bühnenbild und Licht, Kostüm und Maske entstehen. Alle Gewerke des Theaters arbeiten zusammen. Diejenigen, die einmal Zuschauer gewesen sind, sind nun die Hauptdarsteller ihres eigenen Traumes. Diese sogenannten Laien nimmt das Theater ernst. Sie sind gemeint, gehört, gesehen. Sie werden zu Anproben einbestellt, an Ihnen wird Mass genommen. Sie werden von der Inspizientin eingerufen, wie die professionellen KollegInnen an den Abenden zuvor eingerufen worden sind. An den Garderoben stehen sorgfältig ihre Namen geschrieben. In Ihrem Kostüm ist ihr Name eingenäht. Mit Ihnen sitzt das gesamte Produktionsteam bis spät nachts zur Kritik zusammen. Die RegisseurInnen machen keinen Unterscheid zwischen Profis und Laien. Szene für Szene, Satz für Satz wird ausgelotet. Mit der Unbedingtheit des Theaters wird bis zur Premiere um das Stück gerungen. So stellt sich langsam das ein, was nicht vorstellbar war. Diejenigen, die im Zuschauerraum saßen lernen nun ihr Theater und seine Menschen und seine Abläufe von innen kennen. Ihr Verständnis von Theater ist durch diese Erfahrung eine andere geworden, ihre Wahrnehmung eine Genauere, ihre Einfühlung und Reflektion eine Feinere. Die Trennung durch die 4. Wand ist aufgehoben. Sie sind in IHREM Theater angekommen. Und dann gibt es noch etwas, das über das bisher Gesagte weit hinausweist und doch durch das Theater erst möglich geworden ist: dass durch solche Prozesse des Gemeinsamen, des Selbsterfahrens, des Recherchierens, des Ringens um eine Theater-Produktion ein Bezogen-Sein, Beziehungen und Freundschaften untereinander entstehen, die über das Theater hinausführen. Dass eine Gemeinschaft entsteht, die im gegenwärtigen gesellschaftlichen Bild wie ein utopischer Entwurf wirkt: die Utopie eines Gemeinschaftskörpers, wo das Brückenbauen zwischen Mensch und Mensch im Sinn der Beuyschen sozialen Plastik weit über die Kunst hinausreicht – und doch durch sie bedingt ist. Sie wird zu einer Möglichkeit des Zusammenseins und-Lebens, zu einem geschützten Raum, in dem ein Gegenentwurf zur Vereinzelung und Entfremdung möglich erscheint. Da ist der Brückenbau am Berührendsten - und vielleicht auch am Sinngebendsten - und steht so im besten Sinn für eine so dringend notwendige, gemeinsame und berührbarere Welt.